Die letzten Tage im Vertriebenentransport beschrieb mein Vater wie folgt:
Es begann der dritte Tag in dem voll gepferchten Viehwaggon, aber es war ein Glückstag für uns, als wir merkten, dass wir auf deutschem Boden in Furth im Wald standen und von deutschen Dienststellen entlaust, registriert und verpflegt wurden. Erleichtert atmeten wir alle auf. Wir erhielten hier Brot, Wurst, Käse, sogar Marmelade und etwas Butter. Seit fünf Tagen das erste, herzhafte Essen. Unsere zwei Buben waren rundum satt gegessen und schliefen auf ihren Schlafstellen aus Koffern und Ballen, als die Fahrt weiterging, Gott sei Dank nicht in Richtung Sibirien.
Ich musste doch eingeschlafen sein. Ich wurde wach, weil der Zug stand. Ich hörte draußen Stimmen, vertraute, deutsche Worte, welche mich hoffen ließen. Ich machte die Schiebetüren auseinander und sah zwei Bahnbeamte die ich fragte, wo wir sind. Die Antwort lautete: „Wir sind in Frankfurt am Main-Höchst!“ Durch das Gespräch ist nun der ganze Waggon munter geworden und allen fiel ein Stein vom Herzen. Wir wussten, dass wir in Deutschland sind und es auch bleiben würden.
Im Bahnhof aus dem Zug geholt, brachte uns das Rote Kreuz zunächst in einem Luftschutzbunker unter. Gott sei Dank war meine Familie zusammen. Sie bestand aus sieben Personen. Jakob und Anna Kolar, geb. Pilmayer, zu diesem Zeitpunkt 33 und 28 Jahre alt, ihren Söhnen Hermann und Hans, sechs und fünf Jahre alt, die Eltern von Anna, Johann und Maria Pilmayer, geb. Wagner, 65 und 63 Jahre alt, und ihrer Schwester Julia Pilmayer, 26 Jahre alt.
Nach der dritten Nacht, die wir in diesem Bunker verbringen mussten, wurden wir bereits um 8:00 Uhr morgens herausgerufen. Es standen schon etliche Leidtragende mit ihren wenigen Habseligkeiten auf dem Platz. Eine ältere Ordensschwester trat auf uns zu und fragte: „Aus welcher Gegend kommen Sie denn?“ „Aus Krummau im Böhmerwald“, war meine Antwort. „Das kenne ich, ist schön dort. Da rate ich ihnen, sich für das Auto nach Hofheim am Taunus zu melden. Das ist ein sehr nettes Städtchen, liegt nah am Wald, da werden sie sich bestimmt bald eingelebt haben.“
So geschah es auch. Man schrieb den 5. März 1946, es war 9:30 Uhr und bitterkalt, als wir 30 Personen, darunter auch meine Familie, in Hofheim am Taunus landeten. Man führte unser ärmliches Häuflein Frauen, Männer und Kinder schließlich in den Saal des Gasthauses "Frankfurter Hof". Dort sollten wir registriert werden.
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Bevor ich auf der Website des Historischen Arbeitskreises Hofheim (HAH) einige persönliche Geschichten von mir gebe, möchte ich mich zunächst einmal vorstellen. Mittlerweile bin ich der Letzte aus unserer Urfamilie, aber alles, was in Hofheim und Umgebung den Nachnamen „Kolar“ trägt, hat etwas mit mir zu tun.
Ich wurde am Montag, den 13. November 1950, in Hofheim am Taunus geboren. Um ganz genau zu sein im Schlafzimmer der Hauptstraße 3, im 1. Stock. Ich war noch eine so genannte Hausgeburt. Ein Montag war es, da sich meine Mutter nicht getraute, am Sonntag nach der Hebamme, eine Frau Ströll, zu rufen, obwohl ihr bereits die Fruchtblase geplatzt war. So war meine Mutter, nur ja niemandem zur Last fallen. „Wie kannst du nur so dumm sein“, hat sie die resolute Frau da angefahren, „dafür bin ich doch da, hättest ein Sonntagskind haben können!“ Jetzt hatte meine Mutter eine Trockengeburt zu bewältigen und sie hatte es nicht leicht mit mir. Schließlich war ich aber da, und nach einem kleinen Klaps auf meinen Allerwertesten schnappte ich zum ersten Mal Hofheimer Luft und hieß mein Geburtsstädtchen mit lautem Krähen auf das Herzlichste willkommen. So wurde ich also zu einem „Hofemer Bub“.
Was aber hat es mit dem „Böhmischen Migrationshintergrund“ auf sich? Nun, das will ich ihnen gerne erklären. Meine ganze Familie, bis weit ins 18. Jahrhundert hinein nachweisbar, wurde in Böhmisch Krummau (Cesky Krumlov) und Umgebung, im „Schönen grünen Böhmerwald“, geboren. „Wir sind Böhmerwäldler“, nannten sie sich selber stolz. Mein Vater Jakob war Jahrgang 1913, meine Mutter Anni Jahrgang 1917. Geboren wurden sie in der Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden sie und etwa 3,5 Millionen anderen deutsche Menschen Tschechoslowaken und fühlten sich von den Tschechen unterdrückt. Es gab kein Miteinander, nur ein Gegeneinander. Als dann die Nazis im Deutschen Reich an die Macht kamen, wurde es noch schlimmer. 1938 wurde das so genannte Sudetenland von Hitler ans Reich angeschlossen, und kurz darauf ganz Tschechien okkupiert.
Die Deutschen in der Tschechoslowakei waren vom Regen in die Traufe gekommen, und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie in Viehwaggons aus ihrer angestammten Heimat vertrieben und über ganz Westdeutschland verteilt. So landete meine Familie am 5. März 1946 in Hofheim am Taunus, und als „Nachkriegsprodukt“ wurde ich dann 1950 als „Hofemer Bub mit Böhmischem Migrationshintergrund“ geboren. Wie es der Flüchtlingsfamilie so in Hofheim erging, dazu erzähle ich ihnen einige Geschichten.
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